Mein Leben da Drinnen von Marc DANIEL - 

Titel der französischen Originalausgabe Ma vie de dedans , 2013;

Das Buch ist mit freundlicher Genehmigung des Autors übersetzt und veröffentlicht hier auf der Homepage NAK-Ausstiegshilfen:

Übersetzung: Klaus Ulrich Himmel

Lektor der deutschen Ausgabe:  Detlef Streich ©, November 2015

Vorbemerkungen

Oft folgt einem Sektenausstieg viele Jahre später im Erwachsenenalter ein psychischer Zusammenbruch, der bis an den Rand des noch Auszuhaltenden oder sogar darüber hinausgeht. Psychologen stehen vor Rätseln, weil sie die Verquickungen der Erziehung und den Sektenvorgaben mit der Entwicklung der Kindespersönlichkeit nicht entwirren und somit die Spätfolgen auch nicht heilen können. Aussteiger bleiben sich also oft selbst überlassen mit allen negativen Auswirkungen.

Marc Daniel scheint es gelungen, eben diesen Widerspruch, der durch seine  NAK-Sozialisation hervorgerufen wurde, in sich auszuhalten und durch eine positive Entwicklung und mit der Buchveröffentlichung seiner Geschichte  sich über die negative (Fremd-)Bestimmung in seiner Kindheit  hinweggesetzt zu haben. Seine Erinnerungen und Schilderungen der Kindheit  und Jugend sind klar und wie mit den Augen eines Kindes erfasst und in Worte gebracht. Geschildert wird von Marc Daniel annähernd emotionslos, nüchtern und ohne Anklage eindrücklich das Aufwachsen und Leben des Kindes  Luc (geb. ca. 1959) in einer Sekte, deren neuapostolischer Hintergrund (Apostel, Stammapostel werden explizit im Text erwähnt; Pierre ist Stap Schneider) in Hinsicht der Lehre, Botschaft des Stammapostel Bischoff und typischer Rituale unverkennbar ist! "In der Welt und doch nicht von der Welt" hieß es oft im neuapostolischen Sprachgebrauch, und davon handelt das Buch. Wie erlebt ein Kind diese "Welt" unter dieser dichotomen Prämisse? Wie verläuft mit einer so stark eingeschränkten Sicht seine Entwicklung? Wie umgehen mit den erzeugten und logisch nicht auflösbaren Widersprüchen? Der Autor schafft es mit einfachen Worten, Antworten zu geben und dieses Leben des kleinen Luc so darzustellen,  dass selbst Außenstehende (was für ein Wort für den Rest der Menschheit!) sich ein nachvollziehbares Bild von einem solchen Schicksal machen können. Es ist das Wesentliche diese Unterscheidung: Bin ich drinnen oder draußen. Die Bezeichnung "Drinnen" wird hier annähernd substantivisch verstanden, das Drinnen, im Drinnen sein. Auch wenn es sich im deutschen Text um kein Substantiv handelt, habe ich wegen der Bedeutsamkeit des Faktes, "Drinnen" zu sein, das Wort annähernd durchgängig groß geschrieben. Ähnliches gilt der Bezeichnung "Draußen".

Mit großem Dank nun an die fleißigen und  uneigennützigen Übersetzer M.K. und Klaus Ulrich Himmel seien also die folgenden, durchaus auch aktuell gültigen Auszüge (mehr dazu im Nachwort) aus einem ungewöhnlichen Buch jedem Leser empfohlen!

Detlef Streich; den 16.11. 2015

 

Französischer Klappentext:

Luc ist ein kleines Kind, das hineingeboren wurde. Hinein heißt, in das Innere einer Sekte. Er hat seine gesamte Kindheit in der Sekte verbracht und ist bis ins Erwachsenenalter drin geblieben. Seine ganze Wahrnehmung der Welt („Draußen“) ist aus der Sicht der Sekte („Drinnen“) heraus geprägt worden Er konnte sich nicht vorstellen, dass es auch andere Dinge gab als die, die ihm dort drinnen gepredigt wurden.
Sein ganzes junges Leben lang ist er ein Gefangener seines Glaubens gewesen. Er versteht den Unterschied zwischen drinnen und draußen nicht so richtig. Für ihn gab es nur das „Drinnen“, nur dort konnte man errettet werden.

Durch seine Geschichte erzählt uns Luc, wie es ihm gelang, sich aus dieser Sekte zu befreien und wie es möglich ist, durch persönliche Arbeit an sich selbst und die Fragen, die man stellt, wieder zu einer Selbständigkeit der Gedanken zu gelangen.

 

Kapitel: (auch 1-3 neu übersetzt)

  1. Am Anfang
  2. Der Gottesdienst
  3. Die Nachbarn
  4. Das Leben regelt sich
  5. Die Verabschiedungszeremonie
  6. Die Begegnung mit Pierre
  7. Die Musik
  8. Gottesdienst für Verstorbene
  9. Steve
  10. Die Reise nach Zaire
  11. Wie man heiratet
  12. Der Übersee-Aufenthalt
  13. Die Begegnung mit Sigrid
  14. Die Kirche und das Geld
  15. Die Reise nach Kanada
  16. Als Luc aus der Kirche austrat
  17. Veränderung
  18. Schlussworte

Nachbemerkung von D. Streich zur Aktualität des Buches

Download des Buches als PDF-Datei (100 Seiten):  Marc Daniel "Mein Leben da drinnen"

Gerne stelle ich hier auch Lesermeinungen zum Buch ein, Zuschriften sind also sehr erbeten!

17.11.2015  Jürgen:  Mir hat dieses Buch zwar nicht die Augen geöffnet und den Weg nach draussen erleichtert, aber mir hat dieses Buch sehr geholfen meine Erinnerungen zu ordnen und zu verarbeiten, manchmal mit Tränen und mit Wut. Und mir hat dieses Buch eine andere Sicht auf früher gegeben, mich etwas mehr Frieden mit meiner Vergangenheit schliessen lassen und mich auf den Weg gebracht, den der Autor beschreitet. Vielen Dank für die ganze Mühe, bei mir und für mich hat sie gelohnt. "Eine Menschenseele zu erretten ist mehr wert als alle Schätze dieser Erde."

 

Kurze Leseauszüge aus einigen Kapiteln:

1. Am Anfang

Der kleine Luc ist ein Hineingeborener, er hat es sich nicht ausgesucht… Ganz klein war er drinnen und draußen war die Welt. Ganz klein sagte man ihm immer, dass er sich „Drinnen“ befindet und dass es ein großes Glück wäre, „Drinnen“ zu sein. „Draußen“ ist die Welt und die Welt ist schlecht. Die Welt, ein geheimnisvoller Ort. Da soll man unter keinen Umständen hingehen. Es besteht das Risiko, dass man dort verloren gehen würde … Er weiß zwar nicht, was er wagen würde, wenn er in die Welt ginge. Was er aber zu wissen glaubt ist, dass damit ein großes Risiko verbunden ist.

In der Vorstellung des kleinen Kerlchens zeigte sich die Welt als etwas Verschwommenes, nicht sehr klar, eher undeutlich und vage. Er wusste nicht wirklich was sie war, nur, dass sie nicht gut für ihn ist.

Er spürte den dichten Nebel, die dunklen Schatten, die Kälte und die Gewalt. Die Welt macht ihm Angst weil man ihm Angst vor der Welt machte. Man lehrte ihn, dass die Welt „Draußen“ eine große Gefahr für ihn bedeuten würde ... Er war sicher, sich zu verlieren, wenn er in die Welt ging, aber wo würde er sich verlieren? Das wusste er nicht. Und was würde er verlieren? Er wusste nichts davon, aber er würde verlieren, wenn er in die Welt ginge, das war sicher, in welchen Teil auch immer, nach draußen in die Welt...

Die Welt, dieses geheimnisvolle, mysteriöse Königreich mit trutzigen Wehrtürmen und dunklen Kerkern, das hatte etwas von einem Spukschloss, einem dunklen, trübsinnigen Ort…, so stellte er sich die Welt in seiner kindlichen Fantasie vor.

Als kleines Kind versetzt ihn der Gedanke, in die Welt hinauszugehen, in Angst und Schrecken und sein Bild von dieser Welt verbindet sich mit der Vorstellung von entsetzlichen Dingen und feindlich gesinnten Menschen.  Etwa so wie ein kinderfressendes Ungeheuer, das direkt bei ihm um die Ecke auf ihn warten würde, wenn er in die Welt ginge. Er ist sich sicher, etwas Entsetzliches würde ihm zustoßen, wenn er nach „Draußen“ gehen würde.

Aber die Welt lockte ihn auch ein wenig, weil er sie nicht kannte, weil sie ihm derartig geheimnisvoll erschien, dieses unbekannte Geheimnis. So wie Dinge, die man Kindern verbietet und die dadurch immer anziehender werden. Ständig spricht man zu ihm von der „Welt“, auch zu hause. Dabei geht es stets um die beiden Extreme: Die Welt und „sie“, in der Kirche. Die Welt, das „Draußen“, das auf der Lauer liegt, und nur  das Eine will: Die im „Drinnen“ überwältigen. Ein Ungeheuer, das bereit ist, das erste Schaf, welches das „Drinnen“ verlässt und die Welt betritt, mit Haut und Haaren zu verschlingen.

Und sie, sie sind Drinnen … wo drinnen? Luc weiß es nicht, aber er ist Drinnen und die Welt ist draußen … Und es ist gut so, denn er riskiert nichts: er ist « Drinnen » und nichts kann ihm geschehen. Er fühlt sich geborgen. Luc hat es nicht so gewählt, er wurde hineingeboren.

Draußen ist die Kälte, das Unbekannte, das Böse… die Gefahr.

Die erste grundlegende Veränderung in seinem Leben trug sich an dem Tag zu, als er sich entschlossen hatte, die Welt zu entdecken. Der Tag, an dem er die Tür ein klein wenig geöffnet hat, und ein kleiner Lichtstrahl zu ihm herein dringt. Dieses Licht tut ihm gut, es ist hell. Er bemerkt den Unterschied zum „Drinnen“, und die Welt erscheint ihm weniger feindselig, ja er spürt sogar Wärme.

 

2. Der Gottesdienst

Alles in der Kirche beginnt und endet mit einem Gottesdienst. Ohne diesen macht die Kirche keinen Sinn, hat sie kein Leben. Sie finden dreimal in der Woche statt. Der Gottesdienst ermöglicht es ihnen, sich zu versammeln, sich als Gotteskindern zu fühlen, sich in Sicherheit zu fühlen, ganz abgesondert von der Welt, dort im „Drinnen“.

(...)

Der Gottesdienst gab dem Leben der Gotteskinder eine Struktur, eine Ordnung. Ohne Gottesdienst besaß ihr Dasein keinerlei Sinn, keinen Inhalt, kein Leben. Der Gottesdienst füllte die Leere ihres Lebens, die sie ohne die Kirche gehabt hätten. Er gab ihnen das Gefühl, einer richtigen Familie anzugehören und mit ihr eins zu sein. Eine Familie, in der jeder seinen Platz hatte und eine ihm zugedachte Rolle einnahm.

Durch die regelmäßige Wiederholung ordnete der Gottesdienst das Leben der Gotteskinder und seine Inhalte gaben Ihnen Substanz und schenkten ihnen die Führung, wohin sie gehen sollten.

Der Gottesdienst war von strengen Regeln und Ritualen geprägt, die ihm seine Feierlichkeit und Würde verliehen. Diese Regeln gaben dem Gottesdienst eine liturgische Struktur und gaben der religiösen Feier einen seriösen Anstrich. Jedes Element hatte seinen Platz, jeder Mitwirkende eine genau definierte Rolle: Öffnen der Türen, Austeilen der Gesangbücher, Aufstecken der Liednummern und Vorbereiten der Gesangbücher für die Amtsträger. Diese Rituale umrahmten den Gottesdienst und dieser Rahmen beruhigte, weil er den Gläubigen eben wie ein Rahmen Halt und Sicherheit gab. Dadurch konnten sie sich fühlen wie in einer Schutzhütte und sich in diesem Rahmen wohl fühlen.

Er schränkte ihre Sicht auf die Welt, die sie umgab, ein. Er definierte diese Sicht und bildete die Grundlage ihrer eigenen Wirklichkeit. Diese vorgegebene „Sicht“ verwandelte das Bild der Welt entsprechend der ihnen gegebenen Regeln. Sie sahen die Welt durch die Brille der Kirche. Ohne diesen fest vorgegebenen Rahmen wären viele verloren gewesen und einem Gefühl der Unsicherheit überlassen worden. Die Gläubigen wandten die Regeln auf die sie umgebende Welt an, wollten sie gar an ihre Regeln anpassen. Doch die Welt ließ sich nicht verbiegen, deswegen war sie ja auch böse. Die Regeln, DAS war ihre Wahrheit.

Die Rituale und Regeln verhinderten, dass man nachdenken musste. Man konnte sich auf ihnen ausruhen und hatte nicht mal das Bedürfnis, sie in Frage zu stellen. Daher stellte man auch sich selbst nicht in Frage, weil man sich ja den Regeln unterwarf, die doch richtig und wahrhaftig waren.

(...)

Entscheidungen werden nicht zuhause getroffen, sondern nur in der Kirche. Wenn zuhause eine Frage gestellt wird, dann kommt die Antwort weder von Lucs Vater noch von seiner Mutter. Es hieß immer nur „Hast Du schon Priester Soundso gefragt“ oder „Hast Du auch mit dem anderen Priester darüber gesprochen?“.

Die Entscheidungen werden über diese Vermittler getroffen, der eigene Vater, die eigene Mutter sind nur mit der Aufzucht Bevollmächtigte. Sie tragen nicht die eigentliche erzieherische Verantwortung und das ist ihnen gar nicht unangenehm. Was immer auch passiert, sie sind nie wirklich verantwortlich. Sie übermitteln lediglich das, was man ihnen an die Hand gibt, Ihnen sagt oder von ihnen verlangt.

Das stärkt die Macht der Kirche noch mehr, sie übernimmt wie ein Vormund die maßgebende erzieherische Elternrolle. Gott hat den leiblichen Eltern Kinder anvertraut mit der Aufgabe, sie vor dem Verderben zu bewahren. Darin besteht der einzige wirkliche Grund ihrer Elternschaft. Es ist ihre Pflicht, sie regelkonform zu erziehen und ihnen stets DAS Ziel vor Augen zu halten. Eltern sein, das ist für sie eine Aufgabe zum Wohle der Kirche, nicht etwa eine Berufung oder gar ein Lebensziel. Sie haben dafür zu sorgen, dass die Kinder im Glauben wachsen. Wenn ihnen das gelingt dann wird ihnen Segen zuteil und sie dürfen sich freuen. Darin besteht ihr wahres Glück und ihre Aufgabe als Eltern!

 

6. Die Begegnung mit Pierre

Luc ist nun 16 Jahre alt. Er ist in der Kirche sehr aktiv geworden. Soweit es ihm möglich ist, nimmt er an allen kirchlichen Aktivitäten teil: Chor, Orchester, Jugendtreffen und Zeugnisabende. Zeugnisabende: Das war was! Jeden Montagabend trafen sich einige wenige in der Kirche. Unter ihnen die wohl kühnsten, motiviertesten und vielleicht sogar die treuesten Gläubigen.

Von dort aus zogen sie in kleinen Gruppen in die Stadtviertel um die Heilsbotschaft zu verkünden. In Zweiergruppen gingen sie durch die Straßen und klingelten an den Türen. Stets kündigten sie sich mit derselben Botschaft an: „Entschuldigen Sie die Störung. Wir würden Sie gerne zu einem Gottesdienst einladen.“

(...)

In dieser Zeit gab es in der kleinen Gemeinde, der Luc angehörte, einen anderen Jungen in Lucs Alter: Pierre.

Sie waren zwei Jugendliche in einer Gemeinde von zweihundert Seelen. Deshalb mussten sie einfach Freunde sein.

Alle Menschen da drinnen waren Brüder und Schwestern und deshalb zwangsläufig Freunde.

Sie mussten sich ihre Freunde erst gar nicht aussuchen. Gott gab sie ihnen, ob sie ihnen gefielen oder nicht, und sie mussten sich damit abfinden. Die Freundschaft eines Bruders oder einer Schwester zurückzuweisen geht gar nicht. Das ist unvorstellbar und wider die Natur.

Also sind Pierre und Luc Freunde, jedenfalls dem äußeren Anschein nach, und weil es sich so gehört.

In Wirklichkeit empfand Luc sehr schnell ein gewisses Unbehagen in Pierres Gegenwart: Sein künstliches Lachen, das weder spontan noch natürlich war, sein Lächeln, das kaum sein abschätziges Grinsen verbergen konnte und seine aufgesetzte Bewunderung, aus welcher der Neid sprach.

Luc merkte auch, dass Pierre versuchte, sich bei Lucs Freundinnen einzuschmeicheln. Er stellt bei ihm zunehmend eine gespielt mitfühlende, ja krankhaft affenähnliche Haltung fest.
In den Augen aller anderen stehen sie sich sehr nahe. Doch jedem der beiden ist bewusst, dass dies keine wahre Freundschaft ist, eine, die gleichermaßen Freude und Leid zu teilen vermag. Keiner lässt sich vom anderen täuschen. So wachsen sie gemeinsam heran, sie lernen gemeinsam, gehen gemeinsam zum Religionsunterricht, wo Pierre immer der Klassenbeste ist.

Luc ist ziemlich naiv. Er kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es Drinnen negative Gefühle geben könnte, wie etwa Neid oder Eifersucht. Nein, Drinnen herrschen der liebe Gott und sein göttliches Gesetz. Seine Herrschaft kann daher nur Reinheit und Unschuld bedeuten. Sünde hat neben Gott keinen Platz. Er hat sie zusammen mit Satan hinaus geworfen.
Luc bewundert Pierre. Er findet, dass er intelligent und  brillant ist, manchmal witzig und mit einem feinem Humor.

Lucs Stellung in der Kirche wird nach seiner Ansicht jetzt immer wichtiger. Er fühlt, dass ihm bald ein Amt angetragen werden würde.

Und er spürt, dass Pierre es ihm neidet, denn Luc hat Einfluss und ist ein heller Kopf. Vor allem ist er anders. Oft zieht man ihn hinzu und hört ihm zu, weil sein Standpunkt meist originell und seine Ideen ungewöhnlich sind.

Dieser Unterschied sorgt dafür, dass er etwas auf Abstand zu den anderen gehalten wird. Er besitzt für andere eine gewisse Anziehungskraft, zugleich wirkt er aber manchmal auch abstoßend. Jedenfalls ist er nicht wie die anderen. Oft spürt Luc, dass seine Brüder und Schwestern ihm gegenüber eine Mischung aus Bewunderung und Befangenheit empfinden.
Und es kommt immer wieder vor, dass er sich am falschen Platz fühlt.
Trotzdem: Drinnen geht es ihm gut und er will dort bleiben.

Eines schönen Tages wird Pierre ins Amt gerufen. Das ändert alles.

Bis dahin waren sie die hübschen Jugendlichen, denen die Zukunft gehörte, die man für ihren Einsatz und ihre Energie bewunderte. In den Augen der anderen waren sie beide gleichwertig.
Von diesem Tag an aber gibt es einen wahrhaftigen Unterschied zwischen ihnen: Pierre gehört dazu, Luc nicht. Luc bemerkt sehr schnell, dass der Amtsauftrag für die Qualität ihrer Beziehung einen Unterschied bewirkt. Da ist eine gewisse Herablassung spürbar, ein wohlwollender Blick, nur leicht von oben herab. Pierre steht zwar nur eine Stufe höher, aber es ist immerhin eine Stufe!

Pierre geht es gut mit der Situation, dass er dazu gehört und Luc nicht. Er erzählt Luc von den Ämterversammlungen, was da vor sich geht und gesprochen wird, von den Entscheidungen, die es zu treffen gilt und von dem, womit man ihn beauftragt hat.

 

7. Die Musik

„Drinnen“ wird viel musiziert, die Musik ist typischerweise klassisch und eher ruhig, beliebt sind zum Beispiel Choräle und Kantaten von Bach. Bei bestimmten Anlässen ist eher Musik im Stil von Wagner angesagt, um den Eindruck von Kraft und Stärke zu festigen. Mit dieser Musik werden Aussagen wie „Arbeit macht frei“  transportiert, die früher auch von den Nazis verwendet wurden.

Die allerersten Worte im Gesangbuch lauten: „Über die Erde wandelt eine heilige Schar, sie tragen Kronen unsichtbar…“. Das ist das Selbstverständnis ihrer himmlischen Berufung.

Alle singen freudig mit, dies stärkt das Gemeinschaftsgefühl und im Gesang rücken alle näher zusammen. Man fühlt sich miteinander verbunden, beim gemeinsamen Gesang sind die Herzen sich nahe und es verbreitet sich so ein Gefühl von Stärke und Zugehörigkeit.

(...)

Und auch dabei lagen Pierre und Luc wieder im Wettstreit miteinander.
Pierre hatte von beiden die tiefere Stimme, doch er war nicht allein deswegen der Bedeutendere von beiden. Seine ganzes Auftreten und seine Mimik waren die eines Gottesmannes und Heiligen. Allein, wenn man ihn sah, wie er so da stand, war das schon ein weiterer Antrieb für den Glauben.  Schon mit seinen Gesang fiel er auf und war deshalb auch eine wichtige Stütze im Männerchor. Alle sagten ihm eine glänzende Zukunft voraus.

Luc konnte nur durch seine Ausstrahlung und seine Unterschiedlichkeit punkten und er spürte, dass Pierre davon genervt war. Eines Tages schlug er vor, einen musikalischen Nachmittag zu organisieren, den die Jugend für die Senioren gestalten würde.
Dieser Vorschlag wurde von der Kirchenoberen sofort freudig aufgegriffen, die darin eine gute Gelegenheit sahen, die Bindung und Anpassung der jungen gegenüber den älteren Geschwistern zu stärken. Luc hält, was dieses Vorhaben betrifft, die Fäden in der Hand und nimmt einen schönen Erfolg mit nach Hause.

Er hält sich für einen großen Fernsehmoderator des Sonntagnachmittags für alle guten Christen der Kirche. Pierre ist total genervt, im Übrigen hält er sich von jeglicher Beteiligung an der Organisation dieses Nachmittags fern.

Bei der nächsten Jugendchor-Singstunde schlägt der Dirigent Luc vor, er möge doch die Chorleitung übernehmen und die heutige Chorprobe leiten. Da war er im siebten Himmel. Er fühlte sich anerkannt und das tat ihm gut. Seine Stellung im Leben entwickelte sich so langsam.

Luc hört auch weltliche Musik, die ihm sehr gefiel. Er hört Deep Purple in dem Jahr, als sie ihren großen Hit „Smoke on the water“ hatten, der auf allen Radiosendern gespielt wurde und ja,  es gefällt ihm. Er ist gleichzeitig Fan der Beatles, von denen er alle Langspielplatten besitzt! Er hat bereits eine umfangreiche Plattensammlung, auf die er sehr stolz ist und womit er gerne vor seinen Freunden „Draußen“ angibt. Es ist für ihn daher ganz natürlich, dass er auch den Jugendlichen „Drinnen“ davon erzählt, um sie zu begeistern. Das bekommen auch andere mit.

Eines Abends besucht ein Amtsträger der Kirche Luc im Haus seiner Eltern. Er hat sich gleich in Lucs Zimmer eingeladen. Eigentlich war er nur ein relativ niedriger Amtsträger, doch in Lucs Augen war er durchaus sehr bedeutend.  Dieser wollte es noch sehr weit bringen und er fühlte, dass er eine große Verantwortung trug, schließlich war er im göttlichen Auftrag unterwegs.
Von seiner Aufgabe, die Jugend vor den Gefahren der Welt draußen zu schützen, war er absolut überzeugt. Vor allem war er sehr darauf versessen, ja es war ihm ein großes Bedürfnis, dass man ihn respektierte und mit Ehrfurcht begegnete.  Lucs Bruder Georges begleitete ihn. Diese beiden hatten es sich zur Aufgabe gemacht, ihn vor dem Genuss weltlicher Musik zu bewahren, die nach ihrer Ansicht geradezu barbarisch war.

Und so forderten sie ihn auf, ihnen alle seine Langspielplatten zu zeigen. Luc muss sie eine nach der anderen präsentieren und erklären, was darauf zu hören ist. Eigentlich wollten sie das gar nicht wissen, sondern nur haben, dass Luc sie ihnen einzeln vorführt.

Worauf sie es besonders abgesehen hatten, war zu prüfen, ob elektrischer Gitarren bei diesen Musikstücken zum Einsatz kamen.  Es war dunkel im Zimmer, die zwei Lampen in jeder Ecke des Raums sorgten gerade mal für ein bisschen Licht. Luc kniete vor seinem Stapel Platten, die er aus dem Schrank geholt hat, wo er sie aufbewahrte. Sie selbst blieben stehen, um sich mehr Größe zu verleihen und ihm zu verstehen zu geben, dass sie es sind, die das Sagen hatten. Der subversive Charakter Lucs war schließlich längst bekannt. Luc fühlt sich ganz klein und gedemütigt. Er zeigt ihnen eine Platte nach der anderen, nimmt sie nicht mal aus der Hülle oder legt sie auch nicht auf den Plattenspieler, sie wollen sie schließlich auch gar nicht anhören. Es wird kurzer Prozess gemacht und das Urteil folgt unverzüglich, es ist geradezu ein Inquisitionsgericht: „Elektrische Gitarre oder nicht?“ Alle Platten, auf denen elektrische Gitarren zu hören sind, werden auf einen eigenen Stapel gelegt: Es ist der Stapel des Bösen, der von „Draußen“. Und dieser Stapel wächst und wächst.

 

8. Gottesdienst für Verstorbene

Einmal im Vierteljahr vollzieht sich ein für die Kirche sehr wichtiges Ereignis: der „Entschlafenen“-Gottesdienst. Dieser Gottesdienst ist speziell den Toten gewidmet.

Es handelt sich dabei nicht etwa um einen Gedenkgottesdienst, sondern um den Versuch, mit den Toten in Kontakt zu treten, damit sie Gotteskinder werden. All denjenigen, die zu ihren Lebzeiten nicht Zugang zur „Gnade“ hatten, soll es mittels der Gebete der lebenden Gläubigen ermöglicht werden, die Einladung im Jenseits anzunehmen und sich taufen oder versiegeln zu lassen.  Dadurch können sich die  Verstorbenen in der jenseitigen Welt frei machen lassen, wo sie ansonsten, so jedenfalls die Glaubenslehre der Kirche, in mehr oder weniger angenehmen Bereichen eingeschlossen sind, je nach dem Grad ihrer „Boshaftigkeit auf Erden“. 

Die Verstorbenen des „Drinnen“, die im Jenseits grundsätzlich frei sind und daher überall hingehen können, wo sie wollen, werden gebeten, zu den Verstorbenen aus dem „Draußen“ zu gehen, diese einzuladen und ihnen zu erklären, dass auch sie zu dieser Freiheit gelangen können, derer sich die verstorbenen Gläubigen erfreuen dürfen. Jene führen im Jenseits die Zeugenarbeit fort, die sie zu ihren Lebzeiten im Diesseits geleistet haben. Auch dort drüben gibt es also ein „Drinnen“ und ein „Draußen“, je nachdem, ob man ein Erretteter ist oder eben nicht.

Die Vorbereitungen auf diesen großen Augenblick erstrecken sich über mehrere Wochen im Voraus. Während dieser Zeit haben einige der Gläubigen Visionen („Gesichter“) oder erhalten „Botschaften“ aus dem Jenseits. Manchmal geschieht dies dann doch sozusagen „auf Bestellung“, denn es wird natürlich gern gesehen, wenn die Gläubigen davon berichten können, dass sie um Hilfe gebeten wurden oder dass ihnen mitgeteilt wurde, was im Diesseits alles getan werden könnte, um die Toten „zu erretten“. Über derartige Erlebnisse wird in der Vorbereitungszeit häufig mit Tränen in den Augen berichtet; oft ziemlich nah am Geisterglauben.

Luc findet das sowohl geheimnisvoll als auch faszinierend. Aus Mangel, an Gespenster- und Horrorgeschichten zu kommen, denn diese stammen von „Draußen“, erfüllt dies sein Bedürfnis in Bezug auf übernatürliche Erfahrungen. Er findet dies daher außergewöhnlich interessant. Diese speziellen Sonntage unterscheiden sich vom sonntäglichen Alltag der Gotteskinder, sie treten dabei in ganz besondere Sphären ein.

Im Rahmen der Vorbereitungsgottesdienste werden sie ständig an ihren Auftrag erinnert. Die Priester vermitteln ihnen den Eindruck, als ob die Toten tagtäglich bei ihnen wären, wie wenn sie sich zusammen mit ihnen auf diesen Tag vorbereiten würden. Im Leben der Gläubigen waren die Verstorbenen dadurch derart gegenwärtig, dass man schon fast mit ihnen reden konnte.

 

12. Der Übersee-Aufenthalt

Véronique und Luc sind jetzt seit fünf Jahren verheiratet. Ihr Leben wir nach wie vor vom Studium und der Kirche bestimmt. Ein richtiges Studentenleben mit Feten, Bar- und Konzertbesuchen kennen sie nicht mehr. Gerade mal zwei Jahre nach ihrer Hochzeit sind sie schon früh Eltern geworden, deshalb interessiert sie dieses Studentenleben auch nicht. Sagen wir mal so, es interessiert sie natürlich, doch sehen sie es als Ausdruck der Welt, des „Draußen“ und das ist ihnen sowieso verboten. Sie sind jetzt Eltern, diese Rolle füllt sie voll und ganz aus, auch in ihrer vorlesungsfreien Zeit.

Was die anderen Studenten so trieben, ihr unbekümmertes Leben und die vielen Feiern, brachte in ihren Augen keinerlei „Segen“. Dies war der Ausdruck eines ausschweifenden, zügellosen Lebens in der Welt.

Für die Gotteskinder findet ihr Zeitvertreib in einem klar definierten Rahmen in der Kirche statt. Dazu gehören sowohl die Chor- und Orchesterproben, die Reinigung des Kirchengebäudes, Jugendabende und manchmal auch Jugendausflüge. In die Disco oder in einer Bar etwas trinken gehen, gehören dazu sicher nicht.

In Lucs Vorstellung riskiert man mit einem Disco-Besuch mit ziemlicher Sicherheit, das Wiederkommen Jesu zu verpassen. Er stellt sich vor, wie er nach einer durchfeierten Nacht aus einer Disco kommt und die ganze Stadt verwüstet ist, so wie er sich eben die Zerstörung vorstellt, die mit der Wiederkehr Jesu verbunden ist. Das macht ihm schreckliche Angst und es kommt ihm daher überhaupt nicht in den Sinn, ein derartiges Risiko einzugehen.

Im Medizinstudium hatte er ähnliche Alpträume bezüglich eines alten Brauchs, dem sogenannten „bizutage“, bei dem die Neulinge an den Hochschulen offenbar schikaniert wurden. Alle haben Angst davor, auch oder gerade weil sie nicht wissen, was sie dabei erwartet. Die Sitzenbleiber, die die Veranstaltung dieses Ereignisses organisieren, machen ihnen noch mehr Druck, indem sie ihnen schlimmste Misshandlungen androhen.

Luc hat doppelt Angst, einmal vor dieser berühmten „bizutage“, zum anderen vor dem, was mit ihm geschehen würde, wenn er an so einem heidnischen Fest, wenn auch wider Willen, teilnehmen würde.

Er spricht darüber mit seinem Priester, der ihm diverse  Strategien empfiehlt, um diesem Abend aus dem Weg zu gehen. Er könnte mit älteren Glaubensbrüdern sprechen, die auch Medizin studieren, und die vielleicht den Zeitpunkt der Veranstaltung kennen, oder er könnte versuchen, von den Sitzenbleibern etwas darüber zu erfahren, indem er sich mit ihnen anfreunden würde. Da er aber nie feucht-fröhliche Abende besucht, würde das für ihn etwas schwierig werden. 

Dann ist die ganze Spannung plötzlich zu Ende, weil der Abend da ist: Er macht widerwillig alle  Spiele mit, zu denen man sie nötigt. Eigentlich sind diese verdammt komisch.

Der ganze Abend verläuft in einer eher spielerischen Atmosphäre, das oberste Ziel ist es, sich auf eine lockere Art und Weise kennenzulernen. Diese eigentlich löbliche Absicht hat bei ihm jedoch nicht wirklich etwas bewirkt, weil er eben „Drinnen“ in seiner Kirche war und sie waren „Draußen“. Sie waren nicht von derselben Welt, seine war so viel höher und hatte ein wesentlich edleres Ziel. Er konnte sich einfach nicht auf ihre Ebene hinab begeben. Er hatte auch gar kein Bedürfnis, Leute von „Draußen“ kennenzulernen und sich mit ihnen anzufreunden. Luc hat nie gelernt, wie man sich Freunde macht, er hat auch später nie wirklich gelernt, wie das geht.

Sie führten ihre Ehe. Lucs Verlangen nach körperlicher Liebe, das er schon mit zwölf Jahren gespürt hatte, wurde endlich gestillt. Jesus hat seine Gebete erhört, und war solange nicht erschienen, bis er diese wunderbare und lang ersehnte Erfahrung gemacht hatte.

Doch seine Enttäuschung war in etwa genau so groß, wie seine Erwartungshaltung. Gegenüber der großen Aufgabe, ein Gotteskind zu sein, ist die Sexualität von eher nachgelagerter Bedeutung. Für seine Frau ist sie darüber hinaus mit vielen Klischees verbunden. Die meisten der sexuellen Praktiken und Spiele empfindet sie als schmutzig und entwürdigend. Luc zieht sich daher wieder in seine Tagträume zurück, seine Begierde, mehr zu erfahren und auszuprobieren nimmt aber zu.  Der erhebliche Unterschied, was ihre jeweiligen Bedürfnisse angeht, und die damit zunehmende Enttäuschung bei Luc waren einer der Gründe, weswegen sie sich zunehmend voneinander entfernten. Aber das fanden sie gar nicht so beunruhigend, denn um sie herum schien dies das Los und das Leben der meisten Paare zu sein. Warum sollten gerade sie eine Ausnahme bilden?

Es ist geradezu unvorstellbar, derartige Fragen mit irgendjemandem in der Kirche zu besprechen. In intimen Angelegenheiten gibt es dort keine Ratgeber.

 

14. Die Kirche und das Geld

Das Geld in der Kirche ist zwar nicht unbedingt ein Tabuthema, doch spricht man nicht darüber. Es ist schon erstaunlich, dass nie jemand dieses Thema in einem Gespräch angeschnitten hat. Auch die Gläubigen untereinander reden darüber nicht. Dennoch ist Geld in der Kirche allgegenwärtig, zuallererst in der kirchlichen Lehre. Gotteskinder opfern den Zehnten. Man beruft sich dabei auf die Bibel und bemüht Abraham und das Alte Testament, wo das erste Mal vom Opfer die Rede ist. Das ist äußerst geschickt gemacht: Man fordert das Opfer nicht ausdrücklich ein, doch man zitiert aus der Heiligen Schrift und stellt eine Verbindung zwischen dem Opfer und dem Segen her. Ohne Segen hat ein Gotteskind keine Zukunft. Ohne Segen kann ein Gotteskind nicht in der Welt überleben. Ohne Segen ist sogar selbst das Leben eines Gotteskindes ohne Sinn. Der Segen ist unabdingbar und gewissermaßen eine Vollkaskoversicherung inklusive Erfolgsgarantie.

Um den Segen zu erhalten, braucht es aber unbedingt den Zehnten. Aus vielen Bibelstellen wird häufig und sanftmütig zitiert, die Gläubigen sollen nicht beunruhigt werden, doch es wird ihnen unterschwellig suggeriert, dass es völlig unmöglich ist, seinen Zehnten nicht mit Freude zu geben. Der Zehnte, das ist die Möglichkeit, sich den Segen zu sichern.

„Wenn jemand Gott gibt, ist er gesegnet, wo er aber sich weigert zu geben, ist er verdammt.“

Das Geld ist in der Kirche nicht immer unmittelbar sichtbar. Die Innenarchitektur der Gebäude ist eher nüchtern, das gilt auch für die Einrichtung und Dekoration. Luc ist mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es völlig in Ordnung ist, den Zehnten zu opfern. Das wurde zum festen Bestandteil seines Lebens. Seitdem er Geld verdient, seit seinem ersten Ferienjob, war er immer sehr stolz darauf, zehn Prozent von seinem Verdienst in den Opferkasten zu legen. Damit trägt er schließlich zum Werk Gottes bei. Über seine Arbeit im „Weinberg des Herrn“ hinaus (eine Metapher, die die seine Bekehrungsarbeit beschreibt, die er an „Hecken und Zäunen“ ausübt) und auch über all die Aktivitäten, die er sonst noch in der Kirche ausführt, beteiligt er sich damit zum ersten Mal mit seinem selbst verdienten Geld am Aufbau des Reichs Gottes auf Erden. Damit ist er nicht mehr nur passiver Zuschauer, sondern jetzt beteiligt er sich unmittelbar am Aufbau und am Wirken der Kirche und wird so zum Akteur, der zum Gelingen beiträgt. Er hat seinen persönlichen Anteil am Erfolg der Kirche.

Niemand spricht über Geld, doch die Verwendung ist durchaus sichtbar. Zum Beispiel an den großen Kirchen, wo man erkennen kann, dass es bei ihrer Errichtung nicht an Geld mangelte. Oder wenn der oberste Kirchenführer zu ihnen reist, um sie in ihrem Bezirk zu besuchen, dann wird natürlich der größte und schönste Saal der Stadt, der Kongresspalast, für den Gottesdienst angemietet. Luc war mehrere Male dafür verantwortlich, anlässlich eines Stammapostel-Besuchs den Saal zu schmücken. Und dabei konnte er sozusagen ins Allerheiligste gelangen, wo die ganze Organisation vorbereitet wurde und die Führungspersönlichkeiten der Kirche versammelt waren. Die schönsten Hotels, die feudalsten Suiten: Der Stammapostel wurde empfangen wie Gott selbst. Aber dieser „Gott“ litt nicht unter Demut oder Bescheidenheit, wenn er seine Auswahl traf. Er reiste auf Gottes Geheiß und mit der Einstellung eines Prinzen. Er diniert in den renommiertesten Restaurants und die Fahrzeuge, die er auf seinen Reisen benützt, sind Luxuskarossen. Wie hat es schon Lucs Schwiegervater gesagt: „Für den Stammapostel ist das Beste gerade gut genug.“

So ist es mit dem Geld. Der Stammapostel ist so sehr Gott ähnlich, dass Geld für ihn keine besondere Bedeutung hat. Niemand kann sich auch nur im Entferntesten vorstellen, dass er ein finanzielles Interesse hätte. Dennoch war sein Lebensstandard, den jeder sehen konnte, wenn er zu Besuch kam, unerreichbar für all die treuen Gotteskinder. Doch niemand hat darin eine Ungereimtheit oder gar einen Widerspruch gesehen. Einige wenige, die sich eingehender damit beschäftigt haben, fanden heraus, dass der Stammapostel zu den 0,1% der reichsten Menschen in seinem Land gehörte (das war damals die Schweiz). Trotzdem stellt niemand Fragen hinsichtlich des Geldes. Das wäre schließlich ein Beweis an Respektlosigkeit gegenüber der Heiligkeit des Stammapostels und seinem Bild als Saubermann gewesen und hätte seine Autorität beleidigt.  

Doch es gibt schon ein paar, die von der Großzügigkeit der Kirche profitieren. Ab einer gewissen Amtsstufe werden die führenden Kirchenmänner von der Kirche bezahlt. Aber all das sind Gesetzmäßigkeiten, die niemanden stören. Das ist etwa so, wie wenn diese nicht vom Opfer der Gläubigen bezahlt würden, sondern von Gott selbst über eine Bank, die ihm dazu noch gehört. Luc hat nie davon gehört, dass irgendjemand mal die Finanzierung dieser Männer in Frage gestellt hätte und auch nicht, dass jemand das Gesamteinkommen der Kirche oder das Gehalt dieser Gottesmänner hinterfragt hätte.

(...)

Der Stammapostel ist von Kindesbeinen an in die Herzen der Kinder eingepflanzt. Ständig hören sie, dass von ihm gesprochen wird, was er alles tut, was er gesagt hat und wo er überall hingereist ist. Als Luc selbst noch ein Kind war, stellte er sich diesen Mann als einen unerreichbaren Heiligen vor, als einen Mann, der sein ganzes Leben Gott geweiht hat.

Heute, wo dieser Mann, der nun das Stammapostelamt trägt, Luc schon seit seiner Kindheit und Jugend bekannt ist, hat sich sein Vorstellung davon sehr geändert. Heute erinnert er sich an den Neid und die Missgunst, die dieser Mann ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht hat. Heute, wo dieser Mann, den Luc so cholerisch und unaufrichtig erlebt hat, zum Stammapostel geworden ist, weiß er ohne jeden Zweifel, dass diese Kirche Menschenwerk ist und ihre Absicht darin besteht, Männer und Frauen zu unterdrücken und sie zu Sklaven ihrer Denkvorgaben zu machen.

Hilfsweise besteht das Ziel der Kirche auch darin, eine zahlenmäßig kleine Elite zu ernähren und zu bereichern. Lucs Verdacht, seine Zweifel und sein Gefühl haben sich als wahr herausgestellt. Der Mann, den Luc schon seit seiner Kindheit kennt und dessen einziges Ziel darin bestand, so schnell wie möglich den Karriere-Gipfel zu erklimmen, ist ganz offensichtlich nicht von göttlicher Abstammung. Schon in seiner Kindheit, wo sich alle über ihn lustig machten und ihm prophezeiten, dass er in der Zukunft mal der Stammapostel werden würde, hat er seinen Weg zielstrebig verfolgt. Ziemlich brillant, ziemlich überzeugend, ziemlich manipulativ und geschickt darin, die Menge durch hochtrabende, zu Tränen rührende Predigten zu begeistern.

Heute hält dieser Mann die größte Macht in seinen Händen. Luc ist angst und bange bei der Vorstellung, dass diese Macht nun in den Händen von jemandem liegt, der ohne jede Nächstenliebe ist.

 

17. Veränderung

Ziemlich schnell haben ihn die schlechten Gefühle wieder eingeholt. Luc hat auch nach seinem Kirchenaustritt noch immer Misserfolge, leider wurde er sie dadurch nicht los. Es war auch nicht möglich, die Kirche für seine anhaltenden eigenen Fehler verantwortlich zu machen. Seine Wirklichkeit war: zwei Scheidungen, ein Kind und immer noch allein.

So beschließt er, sich einmal selbst in Frage zu stellen. Er beginnt eine Therapie, weil er durch diese Beschäftigung mit sich selbst seine Verschiedenheit  begreifen und sie nach Möglichkeit annehmen möchte. Für die Kirche ist ein „sich selbst in Frage stellen“ kein Bestandteil der Glaubenslehre. Alles, was in der Kirche nicht gut läuft, lastet man gerne der Vergangenheit an.

Wenn sich Luc heute erinnert, was er alles erlebt hat, die Geschichte mit den Schallplatten, seine Heirat, die Zeugenarbeit, dann beschwichtigt man sich damit, das sei „eben früher so gewesen“. Das ist genauso wie damals, als er den Tod des Stammapostels, der eigentlich gar nicht hätte sterben dürfen, angesprochen hat. Da hatte man ihm auch zu verstehen gegeben, dass das eben früher so gesehen und gehandhabt wurde.

Doch heute ist das gestern von morgen. Und wenn er in zehn Jahren die heutigen Ereignisse verurteilen würde, würde man ihm wieder sagen: „Ja, aber das war früher halt so.“

Die Kirche arbeitet stets an einem perfekten Bild der Gegenwart, ihre Vergangenheit zählt nicht, denn das ist ja früher gewesen, und damals, das waren nicht sie von heute und darüber wissen sie auch nicht viel, nur das Heute zählt.

Luc hat sich entschieden, nun seinen eigenen Weg zu gehen, hin zu sich selbst, wo er sich selbst begegnet. Am Anfang kam ihm dieser Weg nicht gerade interessant vor, es gab nichts Neues zu sehen. Alles war ihm im Grunde schon bekannt: Luc und seine Misserfolge, Luc und seine Fragen, Luc und seine Angstzustände. Dann aber, während er so auf dem Weg vorankommt, bemerkt er plötzlich neue Landschaften, bekommt einen anderen Blick auf sich selbst. Wow, das war jetzt wirklich neu! Es ist also möglich, Dinge von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten! Und er spürt, dass sein Weg ein sehr langer sein wird. Er ist noch lange nicht zu Ende und er erstreckt sich von der Gegenwart hin in die Zukunft. Sein Weg hat ihn zur Veränderung seines eigenen Ichs geführt. Ja, Veränderung ist möglich!

Veränderung bedeutet, der zu werden, der man ist. Eigentlich ist das ein fortwährender Zustand, denn der Mensch, der man ist, existiert ja schon seit jeher. Es handelt sich also vor allem um eine bewusste, wunderbare Begegnung mit seinem eigenen Ich, das tief in ihm darauf wartet, von ihm entdeckt zu werden und mit ihm eins zu werden. Veränderung kann geschehen, wann immer man sich selbst dazu entscheidet.

Nachbemerkungen mit aktuellen Beispielen zu „Mein Leben da drinnen“ (D. Streich)

Wer vielleicht entgegenhalten möchte, dass es sich bei der Schilderung um heute letztlich veraltete Fakten handelt, der verkennt, dass die in dieser Zeit sozialisierten Personen heute zwischen 40 und 50 Jahre alt und somit mitten unter uns sind, und dass die hier beschriebene Indoktrination in der beschriebenen Weise mindestens noch bis in die 70er und 80er Jahre fortgesetzt wurde. Außerdem finden sich hier auf den Seiten  meiner Hp viele aktuelle Beschreibungen der letzten Jahre, die die Aktualität  der Beschreibungen  bis in die heutige Zeit durchaus bestätigen. Hier nur zwei Beispiele von Stap Schneider:

Stap Schneider 1.1. 2014 zum Thema Kirche/Apostel: "Wir alle – ob Amtsträger oder nicht – wollen uns durch Stürme, denen wir ausgesetzt sind weder beeindrucken noch entmutigen lassen. ... Es muss das Wasser, das ins Boot eingedrungen ist, ausgeschöpft werden – Wir wollen unermüdlich gegen schädliche Einflüsse auf die Kirche kämpfen: ..., das Infrage stellen des Apostelamtes oder der Ersatz des Glaubens durch bloße Ethik, ohne an Gott zu glauben, um nur einige zu nennen."

Stap Schneider 8.12.2013 in Valencia zum Thema, wer wird von Jesus angenommen: "Wenn er (Jesus) kommt, kann er nur die zu sich nehmen, die in dieser Einheit gewachsen sind. Einzelgänger kann er da nicht mitnehmen. Denn die passen einfach noch nicht in diese Gemeinschaft rein. Also, bei den Brüdern, die sich lieben, ist die Einheit von höchster Wichtigkeit. Der Herr kommt in seinen Tempel, wo die Apostel die Braut vorbereiten."

Solange die Führungsfunktionäre, also der Stammapostel und die Apostel, nach wie vor  bezüglich ihrer absolut autoritären Amtsleitung mit Gehorsamsverpflichtung zur Nachfolge in altbekannten Positionierungen verharren, bleiben alle anderen Bemühungen nur Makulatur und prägen nicht das Gesamtbild der Kirche. Wie speziell den NAK-Kindern die „Welt“ heute noch dargestellt wird, zeigt eindrücklich ein Beispiel aus Viersen vom 26.08.2012.

Zitat aus der Homepage:

 

"Gott hat schon immer die Menschen aufgerufen, dass sie sich ihm und nicht den Götzen zuwenden sollen. Durch den eigenen Willen hat der Mensch die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, ob er sich Gott zuwendet.

Anhand von Überlieferungen aus der Heiligen Schrift beobachteten die Kinder, dass unterschiedliche Entscheidungen getroffen werden können."

Und wie diese eigene und freie Entscheidung auszusehen hat belegt eindrücklich das dort eingestellte Foto des kleinen Jungen mit der angelegten, symbolischen Fußfessel sowie den teuflischen Götzenautos in der Hand. ...

Hier ein NAK-Predigtbeispiel aus einem ´normalem` Kindergottesdienst vom 15.05.2011  in Baesweiler. Ausgehend von verständlichen Verkehrsregeln wurden diese dann wie folgt als notwendige Verhaltensweisen von „Gotteskindern“ übertragen, um „um nicht in der Finsternis oder Sünde zu sein.“

- beachten, was die Eltern/ Priester/ Sonntagsschullehrer etc. sagen
- die göttlichen Gebote befolgen
- der Böse will uns berauscht machen (z.B. leichtsinnig, keine Gefahren  erkennen oder unterschätzen, seine eigenen Fähigkeiten überschätzen.)

Nach weiteren Verkehrsbeispielen folgt:

Für uns als Gotteskinder bedeutet es,
- Im Gottesdienst/ KiGo hören wir das Wort Gottes, um uns richtig zu verhalten; macht uns sicher, dass der Tag des Herrn, die Wiederkunft des Gottessohnes bald da ist und wir vorbereitet sind
- nicht die Gebote übertreten - es sieht keiner/ einmal ist kein Mal/ ist doch nicht so  schlimm, machen doch alle

Der Kundige weiß: Solche Indoktrinationen sind kein hoffnungsvoller oder glaubensstärkender Zuspruch für ein Kind in der NAK, sondern bis heute durch die damit verbundene Gruppenanbindung eine allumfassende Bedrohung, denn ein Ausstieg ist aus Sicht der NAK nach wie vor der geistliche Tod bis in alle Ewigkeit! Bis heute!

Der ausgetretene niederländische Apostel Seepers schrieb im Dezember 2007 in einem offenen Brief (http://www.naktuell.de/download/gjsepers_offenerbrief_27-12-2007.pdf ) an Stap Leber:

„Mit Indoktrination als Heilsmittel erschafft die NAK aber ein geistiges ‘Konzentrationslager’. … Die Zeiten haben sich nicht geändert. Dies bedeutet, dass sehr stark der Eindruck erweckt wurde: ‘Wir wissen, was gut ist für die Kinder Gottes’. Die Gläubigen werden indoktriniert, die Kirchenleitung gibt ihnen (auf diese Art und Weise hat Karl Marx doch recht) exklusivistisches ‘Opium’. … Man hat nicht mehr die Möglichkeit, sein Gehirn und Gewissen im von Gott und Jesus Christus gewünschten Sinne zu verwenden. Das System dieser Kirche entzieht dem Menschen seinen freien Willen. Das widerspricht eindeutig dem Manifest der Menschenrechte der Vereinigten Nationen.“

Möge "Mein Leben da drinnen" also noch so manchem Leser die Augen öffnen und den Schritt heraus ermöglichen.

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